Aaron und Auguste Jordan

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Stolpersteine Aaron und Auguste Jordan in Dortmund
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Aaron Albert Jordan

Aaron Jordan wurde am 12.07.1872 in Telgte (Münster) geboren.

Gestorben ist er am 14.12.1942 in Theresienstadt (tschechisch: Terezin).

Familie

Über die genauen Lebensdaten der Eltern, Salomon Jordan und Karoline Schutz, können wir keine gesicherten Aussagen treffen. Wir kennen nur die Geburtsdaten der Söhne: Zwei Jahre nach Aaron wurde Arthur 1874 in Telgte geboren (gest. 1951 Hilversum / Holland).

Geburtsort Telgte und Leben Aaron Jordans vor der Heirat in Telgte

Die jüdische Gemeinde in Telgte war um 1900 die größte Gemeinschaft jüdischen Glaubens im Kreis Münster.

Ein Speicher, der um 1500 erbaut worden war, wurde 1750 zu einem Fachwerkhaus ausgebaut, so dass er mit einer Fläche von ca. 38 m² der damals kleinen jüdischen Gemeinde bis 1875 als Synagoge und Schule dienen konnte. Um 1842 lag der Anteil der jüdischen Gemeinschaft an der Gesamtbevölkerung des Ortes bei ca. 3,5%. Ab 1848 bzw. 1857 war Telgte Sitz der Synagogengemeinde des Münsterkreises, zu dem noch die Juden in Amelsbüren, Bösensell, Havixbeck, Nottuln, Rinkerode und Wolbeck zählten. 1866 beschloss die Gemeinde wegen der steigenden Mitgliederzahl, eine neue Synagoge zu errichten. Am 05.09.1875 wurde die Synagoge eingeweiht. Das Gebäude konnte allerdings nur ca.10 Jahre von der Gemeinschaft finanziert werden. Zwischen 1877-1886 führte die jüdische Gemeinde eine Privatschule. Nachdem die Schule nicht mehr finanziert worden konnte, mussten die jüdischen Kinder auf die dortige Ortsschule gehen. Wir können also vermuten, dass Aaron und sein Bruder die Chance hatten, die jüdische Schule zu besuchen, und auch schon ein von der neuen Synagoge geprägtes Gemeindeleben erlebten.¹

Auguste Jordan

Auguste Jordan wurde am 17.10.1875, unter dem Familiennamen Silberschmidt, in Lingen (Niedersachsen) geboren. Gestorben ist sie am 06.05.1943 in Theresienstadt (tschechisch: Terezin).

Familie

Foto aus dem Besitz der Familie Jordan, das bei dem Emdener Fotografen Wilhelm Mohaupt (1866–1909) angefertigt wurde und wahrscheinlich das Ehepaar Hermann Hartog Silberschmidt und Henriette van der Wall zeigt.²

Ihr Vater war Hermann Hartog Silberschmidt, der am 06.04.1846 in Hengelo (Holland) geboren wurde und am 10.12.1922 in Emden verstarb (siehe seinen Grabstein). Ihre Mutter Henriette van der Walde war auch bekannt unter dem Namen „Wal Walde". Geboren wurde sie am 13.10.1841, gestorben ist sie am 07.04.1933 in Emden (siehe ihren Grabstein). Zusammen hatten die Eheleute Silberschmidt vier Töchter: Rosa, Auguste, Fanny Malie und Minna. Ab wann die Familie nach Emden umzog, lässt sich derzeit nicht sagen, in den entsprechenden Adressbüchern der ostfriesischen Stadt lässt sich auf jeden Fall der Name Silberschmidt, aber auch van der Walde nachweisen:

Große Faldernstraße 16

1911: Geschwister M. & A. Silberschmidt, Tapisseriegeschäft; in den Ausgaben von 1906/07 bzw. 1913/14 wird das Geschäft nicht erwähnt.

Kranstraße 31

1890: Johann Silberschmidt, Schlachter; Sara van der Walde

1897: Hermann Silberschmidt, Schlachter

Neuer Markt 12

1902, 1904, 1906/07: Hermann Silberschmidt, Schlachtermeister

1911: Hermann Silberschmidt, Händler; Minna Silberschmidt, Tapisseriewarenhändlerin; Amalie Silberschmidt, Tapisseriewarenhändlerin.

Auch wenn der Schlachtermeister Hermann Silberschmidt als möglicher Vater Auguste Silberschmidts das richtige Alter hat, scheint die Identifizierung mit dem 1911 genannten Bewohner am "Neuen Markt 12" die wahrscheinlichere, besonders da die beiden dort ebenfalls erwähnten Tapisseriewarenhändlerinnen die Schwestern Augustes sind.

Leben vor der Heirat in Lingen

In Augustes Geburtsstadt Lingen lebten Mitte des 19. Jahrhunderts um die 2757 Menschen, von denen nur 15 jüdischen Glaubens waren. Dementsprechend gab es eine überwiegend christliche Bevölkerung. Aufgrund der prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung nahm die Einwohnerzahl in der Folge deutlich zu: Im Jahr 1895 zählte die Stadt 6733 Einwohner, wovon 122 Juden waren.³

Im Jahr 1878 war der Vater von Auguste Silberschmidt im Synagogenbauverein der niedersächsischen Stadt aktiv, wie ein Protokoll einer Sitzung belegt. Im gleichen Jahr wurde in der Stadt Lingen die Synagoge eingeweiht. Die Juden in Lingen verdienten ihren Lebensunterhalt in der Regel mit dem Schlachtergewerbe, dem Viehhandel und dem Handel mit Rohprodukten wie Wolle oder Fellen.

Die jüdischen Kinder wurden in den 1870er Jahren anfangs im Gebetsraum des Gemeindemitglieds Isaak Friedland unterrichtet. 1878 entstand ein separates Schulgebäude. Da die Aussagen über die Dauer des Schulbetriebs sich widersprechen, bleibt unklar, ob Auguste diese Schule besucht hat.

Ihr Sohn Hermann Jordan berichtete in der eidesstaatlichen Erklärung 1958 (im Rahmen des Verfahrens zur Rückerstattung der verlorenen Werte) davon, dass Auguste die Volksschule in Lingen a.d. Ems oder in Emden besuchte. Nach der Schule machte sie seinen Aussagen zu Folge eine kaufmännische Ausbildung in der Textilfirma Gumperz in Emmerich a/Rh.– wahrscheinlich handelt es sich um das „Textilhaus Nathan & Gompertz“, eine angesehene und alteingesessene Firma. Anschließend habe sie als Verkäuferin bei der Konfektionsfirma Löwenstein & Freudenthal in Hildesheim gearbeitet: Ein Zeitzeuge beschreibt Löwenstein & Freudenthal als vierstöckiges Modehaus mit Café. Die dortige Stellung gab Auguste Silberschmidt bei ihrer Hochzeit auf.

Anders als sonst in bürgerlichen Kreisen üblich, wurde Auguste Silberschmidt nicht nur auf die Ehe vorbereitet, sondern auch erstaunlich gut ausgebildet.

Auguste und Aaron Jordan

Wohn- und Lebenssituation der Familie Jordan vor der Arisierung ihres Betriebes

Geheiratet haben Aaron und Auguste im Jahr 1904, das genaue Datum der Hochzeit kennen wir allerdings nicht. Ihrer Ehe entstammten drei Kinder: Paul (12.9.1906), Hermann (7.8.1907) und Helga (24.3.1912). Wegen der damals hohen Kindersterblichkeit – auch in bürgerlichen Verhältnissen - könnte das Paar auch schon vor 1906 ein oder zwei Kinder verloren haben, bevor die drei bekannten Kinder geboren wurden. Direkt über dem Familiengeschäft an der Rheinischen Straße 56 lag die Wohnung der Familie Jordan. Das Ehepaar Auguste und Aaron Jordan lebte dort von 1905 bis 1934, alle drei Kinder der Familie wuchsen somit in der Rheinischen Str. auf.

Aus der unten folgenden Aufstellung lässt sich ersehen, dass die Jordans bis dahin einen modernen, bürgerlichen und gut ausgestatteten Haushalt führten. Zur Kücheneinrichtung gehörten moderne Geräte. Im Bad befand sich eine Waschgarnitur aus Marmor mit fließendem Wasser. Ihre Wohnung bestand aus: Salon, Wohnzimmer, Herrenzimmer, Erker, Schlafzimmer der Eltern und zwei weiteren Schlafzimmern, Küche, Badezimmer, Flur und einem Schlafzimmer für das Dienstpersonal. Man kann ihren Lebensstil fast großbürgerlich nennen. Eine passende Beschreibung der Lebensformen westeuropäischer, insbesondere deutscher Juden um 1900 gibt die Historikerin Paula Kienzle:

„Bürgerlicher Lebensstil und die dazu gehörigen Werte werden von vielen jüdischen Familien zielstrebig und konsequent übernommen und umgesetzt. So entsteht allmählich ein so genanntes säkulares oder assimiliertes Judentum. Das heißt: Die geschichtliche und kulturelle Zugehörigkeit zum Judentum wird noch anerkannt, jedoch wird auf die dazu gehörige Ausübung der Religion nach außen hin immer mehr verzichtet.“

Zu diesem assimilierten Judentum gehörte oft auch eine starke Identifikation mit dem Nationalen und dem Vaterland. Laut der Tochter Helga Lilie-Jordan war der Haushalt zwar koscher, aber die Eltern waren relativ liberal eingestellt; Kontakt zu religiöseren Verhaltensweisen hatte die Kinder eher über die Großeltern. Dennoch führte die Familie ein reiches soziales Leben, mit vielen gesellschaftlichen Beziehungen auch durch die Mitgliedschaft in einer christlich-jüdischen Loge – 1933 setzt dem ein Ende. Insgesamt charakterisiert Helga Jordan ihre Eltern als „deutsch, deutsch!“ ¹⁰

Ebenfalls in den Verfahren zur Rückerstattung der verlorenen Werte gibt Hermann Jordan nach dem Krieg folgendes über die gehobene Wohnsituation der Familie zu Protokoll:

„[…]. Mir ist die Aufstellung meiner Schwester Helga Lilie geb. Jordan vom 31. Dezember 1956 über das Mobiliar meiner Eltern sowie über den sonstigen Hausrat, insbesondere Porzellan und Kristall sowie Silbersachen bekanntgegeben. Ich selbst habe Deutschland bereits 1934 verlassen und bin erst 1953 zum erstenmal wieder in Deutschland gewesen. Zu der Wohnungseinrichtung meiner Eltern erkläre ich:

Wohnzimmer nachgestellt mit KI

I. Salon und II. Wohnzimmer. Diese beiden Zimmer sind etwa 1904/05 anläßlich der Verheiratung meiner Eltern in Dortmund bei dem damals führenden Möbelhaus Hüllen, Dortmund, Ostenhellweg, angeschafft worden. Es waren schwere, massive Möbel. Über die in diesen beiden Räumen befindlichen Teppiche kann ich nur sagen, daß sie bedeutend später angeschafft worden sind, und zwar als Ersatz für die ursprünglich vorhanden gewesenen Teppiche. Es waren echte Stücke. Alle Teile dieser beiden Zimmer waren bei meiner Auswanderung noch sehr gut gepflegt und erhalten. Ich bin der Ansicht, daß der Salon, wie er damals stand, noch einen Wert von annähernd RM 6.000.-- hatte, während das Wohnzimmer noch etwa RM 4.000.-- wert war.

Herrenzimmer nachgestellt mit KI

Das in der Aufstellung vom 31.12.1956 unter III. aufgeführte Herrenzimmer ist nach meiner Erinnerung erst im Jahre 1926 angeschafft worden. Es handelte sich auch hierbei um schwere Eichenmöbel in gediegener Ausführung. Der Perserteppich und die Brücke waren ebenfalls echte Stücke. Nach meiner Ansicht hatte z.Zt. meiner Auswanderung im Jahre 1934 diese Zimmereinrichtung einen Wert von etwa RM 5.000.--.

Die unter IV. aufgeführte Erkereinrichtung schätze ich auf RM 100.-- z.Zt. meiner Auswanderung. Das unter V aufgeführte Schlafzimmer ist bereits im Jahre 1904/05 angeschafft worden. Es war Kirschenholz und sehr schwer und gediegen. Ich schätze den Wert dieses Zimmer z.Zt. meiner Auswanderung auf etwa 3.000.--.

Das unter VI genannte Schlafzimmer in weißem Schleiflack war erst etwa 1928 angeschafft worden und hatte 1934 einen Wert von etwa RM 800.--.

Das weitere unter VII aufgeführte Schlafzimmer war ebenfalls in weissem Schleiflack und auch etwa im Jahre 1928 angeschafft. Der Wert war 1934 etwa RM 500,--.

Küche nachgestellt mit KI

Die unter VIII benannte Küche war auch in weissem Schleiflack gehalten. Mit Einschluß des Kühlschrankes und des großen kombinierten Kohlen-Gasofens schätze ich sie auf etwa RM 1.000,--. Ansich waren die Küchenmöbel schon 1904/05 angeschafft worden, jedoch waren die beiden wertvollen Stücke, nämlich der Kühlschrank und der kombinierte Kohlen-Gasofen, erst später, und zwar bestimmt nach dem ersten Weltkrieg, hinzugekauft worden.

Das Badezimmer (IX) hatte mein Vater 1928 vollkommen neu einrichten lassen, so daß der Wert es eingebauten Inventars auf etwa RM 1.000,-- anzusetzen ist.

Flurgarderobe (X) ist mit RM 150.-- anzusetzen.

Die Beleuchtungskörper (XI) sind im Laufe der Ehe meiner Eltern immer wieder erneuert worden. Die letzten Anschaffungen sind etwa 1926 bis 1928 gemacht worden. Der Gesamtwert dürfte für das Jahr 1934 mit RM 1.000,-- anzusetzen sein.

Der unter XII aufgeführte Hausrat war sehr wertvoll. Meine Eltern legten zu allen Zeiten besonderen Wert darauf, gerade bei ihrem Geschirr und ihren Silbersachen nur das Beste zu haben. Ich schätze den Wert aller dieser Sachen auf etwa RM 4.000,--.

Das Inventar des Mädchenzimmers ist mit etwa RM 200.-- anzusetzen.

Ich möchte abschliessend bemerken, daß der Besitz meiner Eltern hinsichtlich des vorgenannten Mobiliars etc. auch im Jahre 1932, als mein Vater sein Geschäft aufgeben mußte, unverändert blieb, da er in der damaligen Zeit eben durch meinen Onkel Arthur Jordan in großzügiger Weise unterstützt wurde.“¹¹


A. Jordan & Cie. Damenputz, Mode- und Manufakturwaren

Aaron Jordan, führte als Inhaber das Geschäft „A. Jordan & Cie“.¹² ¹³ Dort wurden Kurz-, Weiß- und Wollwaren, sowie Damenputz¹⁴ verkauft. Das Geschäft in der Rheinische Straße 56 bestand von 1905 bis zum 31.12.1932.

Annonce eines Bitburger Geschäfts mit einem vergleichbarem Warenangebot: Putz war damals alles an Textilien, besonders Accessoires, mit denen sich Damen schmücken konnten (Archiv Stephan Garçon).

Nach der Heirat arbeitet Auguste im Geschäft der Familie Jordan als selbstständige Leitung der Abteilung für Damenputz- und Modewaren und war auch für den Einkauf zuständig. Zudem übernahm sie während des 1. Weltkriegs zeitweise die alleinige Leitung des Geschäftes. Dies geschah, weil Aaron zu der Zeit zum Militär eingezogen wurde. Im Sommer 1919 wurden im Rahmen der Hungerunruhen, die aus der katastrophalen Versorgungslage nach dem 1. Welkrieg resultierten, Dortmunder Schuh- und Textilgeschäfte geplündert, nämlich Isenbeck, Goldmann, Tenkhoff, Romeo, Hertz und auch die Firma Jordan.¹⁵ Über die Goldenen Zwanziger Jahre erfahren wir etwas aus der Aussage von Luise Müller, die von 1917 bis 1928 als Putzverkäuferin angestellt war: Danach hatte das Geschäft einen guten Umsatz und genoss einen dementsprechenden Ruf.¹⁶

Ab 01.02.1932 übernahm dann der Bruder, Arthur Jordan, das Geschäft, gemeinsam mit seinem Geschäft in der Münsterstraße wurde es unter veränderter Firmenbezeichnung weiter geführt: "Firma Jordan, Geschw., Inh. Arthur Jordan, Verkauf von Kurz-, Weiß und Wollwaren, Putzgeschäft", Geschäftslokal Dortmund, Münsterstraße 41-45 und Rheinische Straße 56. Daraufhin arbeitete Auguste Jordan, die zuvor in dem anderen Geschäft über die Kasse hatte frei verfügen können und Bankvollmacht sowie Zeichnungsberechtigung besessen hatte, nur noch als Angestellte im Geschäft in der Rheinischen Straße 56. Ende 1933 ging das Geschäft in der Rheinischen Straße 56 im Rahmen der Arisierung laut Aussage von Hermann Jordan auf die Firma Küster & Kempkes über, während Arthur Jordan sein Geschäft „Geschwister Jordan“ noch bis 1935 weiterführte.¹⁷

Im Anschluss lebten Auguste und Aaron Jordan vom 01.10.1934 bis 18.09.1937 in der Kaiserstraße 29. In jener Zeit bestritten sie den Lebensunterhalt durch eine Unterstützung von RM 150, die sie von einem nahen Verwandten erhielten; der Betreffende könnte der Bruder bzw. Schwager Arthur Jordan gewesen sein. Eventuell besaß Aaron Jordan noch Geschäftslokale in anderen Städten, laut Zeugenaussage eines Herrn Müller, der Hermann Jordan eine Werkstatt vermietet hatte, habe Müller sich die restliche Miete, nachdem Hermann Jordan den Laden aufgegeben habe, von dessen Vater abgeholt, der „hier im Ortsteil Habinghorst [Castrop] ein Textilgeschäft hatte." ¹⁸

Vom 18.09. bis 16.12.1937 lebte das Ehepaar Jordan in der Dreihüttenstraße 8 und vom 16.12.1937 bis zum 21.09.1938 in der Gutenbergstraße 23. Im November 1938, im Anschluss an die Pogromnacht, wurde Aaron Jordan von der Gestapo mehrere Tage in „Schutzhaft“ genommen.¹⁹ Vom 21.09.1938 bis zum 13.12.1939 lebten Auguste und Aaron Jordan in der Bismarckstraße 40; diese vielen Wohnortwechsel einer vorher so lange in der Rheinischen Str. sesshaften Familie belegen die wirtschaftlichen Probleme, die aus der Weltwirtschaftskrise, aber auch der Zwangsarisierung ihres Besitzes resultierten.

Im Jahr 1939 arbeitet Aaron Jordan als einfacher Lagerarbeiter mit einem Verdienst von ca. RM 30 und im gleichen Jahr erhielt das Ehepaar aus dem Verkauf von Möbelstücken und der Ablieferung von Silbersachen RM 400,-.²⁰ Im Februar 1939 waren alle Juden aufgefordert worden, die in ihrem Besitz befindlichen Edelmetalle gegen geringe Entschädigung bei den Pfandleihen ihrer Gemeinden abzuliefern: Laut Abschrift einer Ablieferungsquittung der Städtischen Leihanstalt Dortmund erhielt Aaron Jordan für Silber und Bruchgold im März RM 54. Den Prozess der Enteignung der Juden fasst der damalige Leiter der städtischen Leihanstalt im Sommer 1941 wie folgt zusammen:

"[...] Wenn in späteren Jahren einmal ein Forscher, der die Juden nur vom Hörensagen kennt, die Akten im Stadtarchiv Dortmund, durchwühlt, wird er die Erkenntnis gewinnen, dass auch die deutschen städtischen Pfandleihanstalten zu ihrem geringen Teil an der Lösung der Judenfrage in Deutschland mit gearbeitet haben."²¹

Ende 1939, am 13.12.1939, wurde das Ehepaar Jordan dann in ein Judenhaus eingewiesen.²²

Leben in Theresienstadt

Im Sommer 1942 werden Auguste und Aaron Jordan aufgefordert sich am 27. Juli im Sammellager, im Saal der Gaststätte „Zur Börse“ in der Steinstr. 35, zu melden. Jordans steht nun die Evakuierung nach Theresienstadt bevor; die nationalsozialistische Propaganda stellte die Umsiedlung in das so genannte Alterghetto Theresienstadt als ein Privileg älterer, aber auch besonders verdienter Jüdinnen und Juden dar, insbesondere für Teilnehmer des 1. Weltkrieges mit hohen Kriegsauszeichnungen, und versprach eine ordentliche Unterbringung – die Realität sollte eine andere sein.²³ Dass das Ehepaar Jordan unter den Angeschriebenen war, erklärt sich durch ihr Alter, eventuell war Aaron Jordan auch dekorierter Kriegsveteran.

Das offizielle Schreiben der Staatspolizeileitstelle Dortmund vom 17.7.1942 beginnt nach dem üblichen Briefkopf eines Amtsschreibens mit:

1.] Am 29.7.1942 werden sämtliche alte und gebrechliche Juden aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in das Altersghetto Theresienstadt abgeschoben. (…) 

3. d] Die Juden dürfen mitnehmen:

1) 50,- RM in Reichsbanknoten,

2) 1 Koffer oder Rucksack mit Bekleidungs- und Wäschestücken, Bettzeug mit Decken und Matratzen [keine Federbetten],

3) Haushaltsgegenstände und Werkzeuge, Eimer, Töpfe, Essgeschirre, Reinigungsgegenstände, Nähmaschinen usw.

4) Lebensmittel, soweit die Juden noch Vorräte besitzen.“ ²⁴

Die jüdische Gemeinde schickt Schreiben, in denen sie die „Transporteilnehmer“ auffordert, mindestens 25% ihrer Barmittel auf das Konto W bei der Deutschen Bank zu überweisen – Geld, was tatsächlich der Gestapo und nicht der Reichsvereinigung der Juden zufloss – und „in reinlichem Zustande, insbesondere mit gepflegtem und geschnittenem Haar“ im Sammellager zu erscheinen. Das mitgebrachte Gepäck sollten die nach Theresienstadt Deportierten nie wiedersehen.²⁵

In Ställen des damaligen Viehmarktes verbrachte das Ehepaar seine letzten Tage in Dortmund, bevor es am 29. Juli vom damaligen Dortmunder Südbahnhof deportiert wurde mit dem Fahrtziel Theresienstadt. Aaron Jordan ist zu der Zeit nun 70 und Auguste Jordan 66 Jahre alt.

Der Zug verließ mit 968 Personen, davon 315 Dortmundern, unter dem Namen Transport X/1 am 29. Juli um 13.30 Dortmund. Die Fahrt zum Bahnhof Bauschowitz, über Kassel und Dresden, dauerte etwa 20 Stunden. Dort wurden am 30. Juni die zum Teil sehr alten und kranken Menschen aus den Waggons herausgeprügelt und zum mehrstündigen Fußmarsch nach Theresienstadt gezwungen.²⁶

Ab Sommer 1942 leben Auguste und Aaron Jordan in Theresienstadt.

Die Männer wurden in den meisten Fällen von den Frauen getrennt untergebracht und es ist fraglich, ob Jordans altersbedingt, deswegen wohl auch nicht mehr arbeitsfähig, und aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zum Kreis der ‚Privilegierten‘ (z.B. sehr bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens) irgendwelche Vergünstigungen genossen haben – ihr Leben wird in Theresienstadt durch Entbehrung und Krankheit geprägt gewesen sein. Der Historiker Wolfgang Benz bemerkt: „Theresienstadt war als Ghetto eine Station der ‚Endlösung der Judenfrage‘ und es hatte außerdem die Funktion, die Welt über die Absichten des Nationalsozialismus zu täuschen.“ ²⁷

Die Wohnfläche betrug für einen Häftling im Jahr 1942 in etwa „1,6m²“– so berichtet der Soziologe und Augenzeuge H.G. Adler, der Theresienstadt aus eigener Erfahrung kannte und einen systematischne Bericht vorgelegt hat. Es gab demnach oft keine Waschmöglichkeiten, schlechte Gemeinschaftsklos, fehlende Abfallentsorgung, Stockbetten, wenig Stauraum. Daraus resultierten Probleme mit Wanzen, Fliegen, Ratten usw. Zu der Standardausrüstung in einem von vielen Menschen bewohnten Raum gehörten ein Bett, Eisenofen, manchmal, aber eher selten, ein Tisch mit Sitzmöglichkeiten, Nägel zum Aufhängen, Besen, Schaufel und eine Abfallkiste. Die Beleuchtung war rationiert. Es drohte dann auch immer noch der Weitertransport aus Theresienstadt in ein Vernichtungslager, was den sicheren Tod bedeutete. Zusätzlich sollten viele der Inhaftierten von 400 bis 600 Kalorien pro Tag leben, die zudem nicht aus nahrhaften Lebensmitteln bestanden – Fett fehlte weitestgehend. Diese Unterernährung traf besonders Alte und Kranke, Zusatzrationen gingen nur an Arbeitsfähige. Außerdem gab es bei der Essensausgabe viele Ungerechtigkeiten, die wieder die Schwachen trafen. ²⁸

Für das Ehepaar Jordan kam noch erschwerend hinzu, dass Deutsche weder bei der tschechischen Gendarmerie, die das Ghetto bewachte, noch bei den osteuropäischen Mithäftlingen beliebt waren.²⁹

Für Aaron wurde Martyrium bereits nach einem halben Jahr beendet, denn er starb am 14.12.1942. Auguste Jordan lebt noch bis zum nächsten Frühjahr und verstarb am 6.5.1943.


Und heute? Aktives Gedenken!

Die internationale Gedenkstätte Yad Vashem ermöglicht, persönlich konkreter Personen auf einer virtuellen Wand zu gedenken.

Wer mag, trägt sich auf der Seite Join the IRemember Wall ein. Das Andenken an Aaron und Auguste Jordan erhält auf diese Weise eine weitere Dimension.

Weiterführende Literatur, Internetseiten und Belege

Einzelnachweise

[1] http://www.erinnerung-und-mahnung.de/.

http://www.jüdische-gemeinden.de/.

[2] https://www.geni.com/people/Hermann-Silb^erschmidt/6000000032900819588; zu dem Fotografen Mohaupt siehe die Internetpräsentation "Pelzerhaus-Gesellschaft - Bildarchiv Emden" unter: https://www.bildarchiv-emden.de/pelzerstrasse-23/; die Auszüge aus den Adressbüchern hat freundlicherweise Thomas Feldmann zur Verfügung gestellt.

Stammbaum Familie Jordan

[3] https://www.lingen.de/tourismus-freizeit-kultur/stadtarchiv/lingener-stadtgeschichte-erleben/die-juedische-familie-aron-markreich-lingen-ems.html.

[4] https://www.emsland.com/urlaub/sehenswertes/details/gedenkort-juedische-schule/.

[5] https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/k-l/1202-lingen-ems-niedersachsen.

[6] https://www.noz.de/lokales/lingen/artikel/-23095827.

[7] Eidesstattliche Erklärung von Hermann Jordan, 02.02.1958, Wiedergutmachungen 161822; zu "Nathan & Gompertz" siehe Wirsbitzki 1997, S. 28; Dietrich Vornfett über "Löwenstein & Freudental": “It was the largest clothing store in Hildesheim, had four floors and even a café, which was very new back then.”, zit. n. Bergerson 2004, S. 95.

[8] Galinski / Müller / Lutzer, o.J., S. 17-20.

[9] Kienzle, 2008, S.149.

[10] Interview Helga Lilie 1990.

[11] Eidesstattliche Versicherung von Hermann Jordan, Köln 17.12.1958, Wiedergutmachungen 622011.

[12] Die Abkürzung "Cie." steht für "Compagnie", heute üblicherweise "Co.", und bezeichnet eine Firmenform mit mehr als zwei Teilhabern.

[13] Abschrift der Gewerbesteuerunterlagen, Dortmund, 28.02.1957, Wiedergutmachungen 161180.

[14] Das Wort "(Heraus)Putzen" bedeutet "sich schmücken und verschönern" und Putzwaren waren alle Dinge des textilen Bereiches, die diesem Zwecke dienten: Stoffe, Bänder, Spitzen etc.

[15] Heimes 2004, S. 10.

[16] Eidliche Vernehmung von Luise Müller vor dem Amtsgericht Dortmund am 24.2.1960 auf Antrag des Amtes für Wiedergutmachung der Stadt Dortmund, Wiedergutmachungen 622011. ]] [17] Eidesstattliche Erklärung von Hermann Jordan, 02.02.1958, Wiedergutmachungen 161822; die Nachfolgefirma lässt sich im Reichstelefonbuch, Bd. I von 1938 nachweisen mit folgendem Eintrag: "Küster & Kempkes, Manuf(aktur).-W(aren)., Rhein(ische). Str."; https://www.digi-hub.de/viewer/fullscreen/1530089175578/525/.

[18] BEG-Antrag des Hermann Jordan, Castrop-Rauxel 28.09.1959, Wiedergutmachungen 163267.

[19] "Judendatei" des Stadtarchivs (überprüfen); Bitzel 1988, Dokument 40, S. 110-111: Schreiben der Staatspolizeistelle, in dem die Entlassung der über 60 Jahre alten Juden aus der Schutzhaft angeordnet wird.

[20] United Restitution Organization an Stadt Dortmund, Amt für Wiedergutmachung, Köln 07.01.1960;

Eidliche Vernehmung von Luise Müller vor dem Amtsgericht Dortmund am 24.2.1960 auf Antrag des Amtes für Wiedergutmachung der Stadt Dortmund;
Stadt Dortmund, Einwohnermeldeamt, Bescheinigung, Dortmund, 08.02.1957, alle drei Dokumente: Wiedergutmachungen 622011.

[21] Abschrift der Ablieferungsquittung der Städtischen Leihanstalt Dortmund (23.03.1939), angefertigt am 14.03.1960, Wiedergutmachungen 622011;

zu den Verordnungen siehe "Chronologie zur Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Juden 1933 bis 1945", unter dem Datum 21. Februar 1939: https://www.mahnmal-koblenz.de/index.php/daten-und-fakten/chronologie-zur-diskriminierung-entrechtung-verfolgung-und-ermordung-der-juden-1933-bis-1945; Leiter der Städtischen Leihanstalt zit. n. Knipping 1977, Dokument 20, S. 182-183.

[22] Knipping 1977, S. 196, Fischer 2015, S. 67.

[23] Fischer 2015, S. 208-210.

[24] zit n. Fischer 2015, S. 232-234; siehe auch Knipping 1977, Dokumente 27-29, S. 226-230.

[25] zit. n. Knipping 1977, Dokument 30, S. 231-232; siehe auch S. 130.

[26] Fischer 2015, S. 216.

[27] Benz 2013, S. 11.

[28] Adler 2012 = 2. Aufl. 1960, S. 320-375.

[29] Fischer 2015, S. 216.

Internetseiten

Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum www.jüdische-gemeinden.de:

- Lingen
- Telgte
- Informationen über den Autor der Seite Klaus-Dieter Alicke

Gedruckte Informationen / Archivalien

H.G. Adler, Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, mit einem Nachwort von Jeremy Adler, Reprint der 2. Aufl. von 1960, 2. Aufl. Darmstadt 2012.

Wolfgang Benz, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013.

Andrew Stuart Bergerson, Ordinary Germans in Extraordinary Times. The Nazi Revolution in Hildesheim, Bloomington 2004.

Uwe Bitzel, Damit kein Gras darüber wächst. Ereignisse um die Pogromnacht 1938 in Dortmund, Dortmund 1988.

Rolf Fischer, Verfolgung und Vernichtung - Die Dortmunder Opfer der Shoah. Gedenkbuch, Essen 2015.

Katja Galinski / Christiane Müller / Kerstin Lutzer, Die Erinnerungen der Clara Geissmar – ein Frauenleben im 19. Jahrhundert, Studierendenprojekt Unterrichtsmaterialien zur jüdischen Emanzipation in Baden, Heidelberg o.J.; abrufbar unter: http://www.hfjs.eu/md/hfjs/juedische_emanzipation/geissmar_gesamtpaket.pdf; Zugriff: 16.5.2022.

Alexander Heimes, Die Rechtsprechung des außerordentlichen Kriegsgerichts Dortmund 1919-1920, Münster 2004.

Paula Kienzle, Spuren sichern für alle Generationen: Die Juden in Rottenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2008.

Ulrich Knipping, Die Geschichte der Juden in Dortmund während der Zeit des Dritten Reiches, Dortmund 1977.

Ludwig Remling, Die jüdische Familie Aron Markreich in Lingen (Ems), in: Emsländische und Bentheimer Familienforschung, Nov. 2011, Heft 112, Bd. 22, S. 229-232; abrufbar unter: https://www.lingen.de/tourismus-freizeit-kultur/stadtarchiv/lingener-stadtgeschichte-erleben/die-juedische-familie-aron-markreich-lingen-ems.html.

Brigitte Wirsbitzki, Juden in Moers: eine Minderheit in einer niederrheinischen Kleinstadt bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin 1997.


Wiedergutmachungen 161822

Landesarchiv Münster, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 161822 (Antrag von Helga Lilie, Hermann und Gerhard Jordan für Auguste Jordan geb. Silberschmidt).

Wiedergutmachungen 622011

Landesarchiv Münster, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 622011 (Antrag von Helga Lilie, Hermann und Gerhard Jordan für Aaron Jordan).

Wiedergutmachungen 163267

Landesarchiv Münster, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 163267 (Schreiben des Schutzbereich VI in Castrop-Rauxel, Betr.: BEG-Antrag des Hermann Jordan, geb. am 7.8.1907 in Dortmund., Castrop-Rauxel 28.09.1959).

Wiedergutmachungen 161180

Landesarchiv Münster, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 161180 (Antrag von Helga Lilie in eigener Sache).