Helga Jordan (SEK)

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Vermutlich Helga Jordan (roter Kreis)

Lebensdaten

Helga Jordan wurde am 24.03.1912 in Dortmund als Tochter von Aaron und Auguste Jordan geboren. Auguste Jordan kam aus Emden, wo Helgas Großmutter Henriette van der Walde, verheiratete Silberschmidt, weiterhin lebte und welche Helga in ihrer Kindheit häufig besuchte. Sie wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf¹. Helga hatte zwei Geschwister, ihren Bruder Hermann Jordan sowie ihren Bruder Paul Jordan. Die Familie Jordan gehörte der jüdischen Gemeinde Dortmund an, war allerdings eher liberal eingestellt.² Helga Lilie-Jordan und ihr Bruder Hermann waren die einzigen Shoa-Überlebenden aus ihrer Familie. Sie starb am 19. April 1992 in Jerusalem.

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Nachzeichnung der Familienfirma in der Münsterstr. basierend auf einem Foto in dem Buch "Das Buch der Alten Firmen von Groß=Dortmund im Jahre 1928". Zeichner: Udo Schotten

Ausbildung

Helga Jordan „besuchte [nach eigener Aussage] 3 Jahre die Vorschule, dann das Städtische Schillerlyzeum und schliesslich die Realgymnasial-Studienanstalt des Schillerlyzeums in Dortmund.“³ 

Helga Jordans Schule, heute das Reinoldus-Schiller-Gymnasium, war eine Bündelschule, d.h., unter einem Dach fanden sich - ähnlich wie beim Westfalen-Kolleg - verschiedene Schultypen. Bereits der offizielle Schulname "Realgymnasial-Studienanstalt nebst Schillerlyzeum, Dreijähriger Frauenschule und Vereinigten Sozialpädagogischen Lehrgängen der Stadt Dortmund" macht das deutlich. Zu der Schule gehörte demnach ein Lyceum, das der heutigen Realschule entspricht, ein gymnasialer Zweig und Abteilungen zur Vorbereitugn auf Frauenberufe, etwa heutigen Berufskollegs entsprechend; insgesamt war das Institut allerdings eine reine Mädchenschule. Am 08. März 1932 absolvierte Helga Jordan dort die sogenannte Reifeprüfung, zu vergleichen mit dem heutigen Abitur. In der Entschädigungsakte für Helga Jordan fand sich eine Abschrift ihres Abschlusszeugnisses.



"Realgymnasial–Studienanstalt nebst Schillerlyzeum, Frauenschule und sozial-paedagogischen Lehrgaengen der Stadt Dortmund.
Stempelfrei
nach Tarifstelle 77a des
Stempelsteuergesetzes.


ZEUGNIS der REIFE. -.-.-.-.-.-.-
Fraeulein Helga J o r d a n
geboren den 24.3.1912 zu Dortmund, Kreis……..
israelit. Bekenntnisses
war 7 Jahre auf der realgymnasialen Studienanstalt und 2 Jahre in Prima.
Ihre Leistungen waren in:

1.  Religion: sehr gut
2.  Deutsch: gut
3.  Lateinisch: gut
4.  Franzoesisch: genuegend
5.  Englisch: gut
6.  Geschichte (Staatsbuergerkunde): gut
7.  Erdkunde: gut
8.  Mathematik: genuegend
9.  Physik: genuegend
10. Chemie: gut
11. Biologie: gut
12. Leibesuebungen: befreit


Sie hat die Reifeprüfung bestanden.
Der unterzeichnete Prüfungsausschuss hat ihr demnach
das ZEUGNIS DER REIFE
zuerkannt.
Fraeulein Jordan will Aerztin werden.
Rundsiegel: Dortmund, den 8.Maerz 1932
Provinzial-Schul-
Kollegium zu Muenster Staatlicher Pruefungsausschuss:
Kommissions-Siegel Unterschrift unleserlich Unterschrift unleserlich
Pruefungsleiter Vertreter der Stadtgemeinde
Rundsiegel:
Schillerlyz.m. Realgym.Studien
Anstalt u. Frauenschule zu Dortmund
Dr. Kuessner, Ober-Studiendirektor als Anstaltsleiter
Witt m.p., Studienrat Unterschr. unleserlich, Studienrat
Dr. Wellner m.p. Stolte Studienraetin
Dr. Unckel m.p. Dr. Scheben m.p. Studienraetin
Unterschr. unleserlich Rabbiner Pohl m.p.
Mallinckrodt m.p. Unterschr. Unleserlich."


Ihre Lieblingsfach war Englisch, später spielte sie auch sehr gerne Scrabble auf Englisch.
Helga Jordan hatte ursprünglich den Wunsch, Ärztin zu werden, es war ihr jedoch nicht möglich nach der Schule ein Studium anzutreten, da ihr Vater am 31. Dezember 1932 sein Geschäft aufgrund der Weltwirtschaftskrise einstellen musste und es an seinen Bruder Arthur Jordan übergab. Die zusammengelegten beiden Firmen liefen unter dem Namen bereits bestehenden brüderlichen Geschäfts, Geschwister Jordan GmbH. Es handelte sich um ein Manufakturwarengeschäft in der Münsterstr. 41-45 (siehe Abbildung). Später äußerte Helga, dass es an sich aber gut war, dass sie keine Ärztin geworden sei, weil sie zwar sehr gut helfen könne, aber kein Blut sehen könne. (6) Im selbigen Geschäft begann Helga Jordan, statt des angestrebten Studiums der Medizin, nun eine kaufmännische Lehre. Diese konnte sie allerdings nicht beenden, da es im Jahr 1933, nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, immer wieder zu Konflikten mit der nichtjüdischen Belegschaft kam, weil Helga die ungleiche Behandlung nicht akzeptierte und

"niemals ein Blatt vor den Mund nahm und auch glaubte als Nichte des Inhabers [ihre] Meinung sagen zu dürfen."(Zitat Helga Lillie in der Eidesstattliche Erklärung) (7)


Es war üblich, dass in den Jahrbüchern der Schulen auch in den darauffolgenden Jahren kurze Anmerkungen zu dem weiteren Werdedgang ehemaliger Schülerinnen geschieben wurden. Auch über Helga fanden sich solche Bemerkungen. In dem Jahrbuch des Schillerlyzeums aus dem Jahr 1934-1935 fand sich die Bemerkung:

Abiturientia 1932: Helga Jordan, macht in Ackerbau und Viehzucht, d.h. ordnungsgemäß ausgedrückt, wird landwirtschaftlich ausgebildet.  (8)


In dem Jahrbuch des Folgejahres 1935-1936 fand sich folgende Bemerkung:

Abiturientia 1932: Das Jahr 1935 hat für unseren Jahrgang manche Veränderungen gebracht, nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern auch in Bezug auf den "Familienstand". (...) Die Zahl unserer glücklichen Ehefrauen ist schon auf 5 gestiegen, (zu ihnen zählt u.a.) Helga Lilie Jordan in Jerusalem.“  (9)

Helga Jordan war eine der wenigen jüdischen Schülerinnen im gymnasialen Teil ihrer Schule. Eine der wenigen anderen, war Nina Fischer, welche die Paralellklasse Helgas besuchte. Nina Fischer überlebte die Shoa nicht. (10)


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Ihr Weg in den Nahen Osten

Durch den Rabbiner Dr. Wilhelm, welcher sowohl ihrer als auch der Lehrer ihres Bruders Hermann Jordan war, sowie durch ihre erste Liebe, eine Ferienbekannschaft, hatte Helga bereits früh einen Zugang zum Grundgedanken des Zionismus und ein Veständnis für dessen Bedeutung für das jüdische Überleben. Diese Relevanz ergibt sich durch die jahrtausende lange Verfolgung und immer wieder versuchte Auslöschung jüdischen Lebens.

Helga beschloss nach 1933 relativ schnell, Deutschland zu verlassen. Sie war vorher "treu deutsch bis in die Knochen", doch mit Hitlers Machtübernahme "war sie keine Deutsche mehr". (11) Im August ging sie nach Lyon, um dort an ihrem ersten Hachschara-Kurs (12) teilzunehmen, mit der Absicht, Grundkenntnisse für die bevorstehende Alija (13), darunter versteht man die Auswanderung und Besiedelung des britischen Mandatgebietes, zu erwerben, wie zum Beispiel Fähigkeiten im land-, hauswirtschaftlichen wie handwerklichen Bereich. Im Februar 1934 lebte sie für einen Monat bei ihren Eltern in die Rheinische Straße. Im Anschluss zog sie nach Groß Glagow, um an einem weiteren Hachschara Kurs, diesmal im landwirtschaftlichen Bereich, teilzunehmen. Nach der Absolvierung des Kurses verbrachte sie den Winter des Jahres 1934 erneut bei ihren Eltern, welche mittlerweile in der Kaiserstraße wohnten. Im Frühjahr 1935 zog sie von ihren Eltern aus nach Köln in das dortige Beth Chaluz (Haus der Pioniere) in der Utherechtstraße. Das Beth Chaluz war das Gemeindehaus der zionistischen Organisation Hechaluz, welche junge Jüdinnen und Juden bei der Vorbereitung wie Vermittlung aller möglichen Belange rund um die Alija unterstütze (14). Bei dieser Organisation wartete sie auf ihre Arbeitserlaubnis für Palästina. Die Kosten für die Alija betrugen rund 490 Reichsmark, welche ihr Onkel Arthur Jordan übernahm. (15)

Antreten der Alija

Eine Woche, nachdem sie ihre Arbeitserlaubsnis erhalten hatte, emigrierte Helga Lillie am 22.08.1935 schließlich von Dortmund über Köln in das britische Mandatsgebiet Palästina. Bei ihrer Ankunft hatte sie noch 10 Reichsmark von dem Geld ihres Onkels übrig. Wo genau sie bei ihrer Ankunft in Israel zuerst lebte, ist nicht bekannt, vermutlich aber in dem Be`er Tuvia, einem Moshav im Süden Israels, von welchem sie und ihr erster Mann Richard später in das Moshav Kfar Warburg zogen. (16)

Leben und Familie in Israel

Foto von Helga Lilie-Jordan mit Ehemann & wahrscheinlich Enkel

Unterschied zwischen Kibbuz und Moshavim

Sowohl Kibbuz wie auch Moshav sind Siedlungen, welche stark landschaftlich geprägt sind und maßgeblich zu der Besiedlung und dem Aufbau Israels beigetragen haben. Trotz deren Bedeutung für den Aufbau Israels bestanden auch bereits vor der Staatsgründung viele Kibbutze, welche von jungen Zionist:innen, meist aus Osteurope aufgebaut wurden. Sie wollten zum einen ihre alte Heimat wieder besiedeln und zum anderen auch in einer neuen Gesellschaftsform leben, deren Grundprinzipien auf Solidarität und kollektiver Zusammenarbeit beruhen. Während ein Kibbutz stark genossenschaftlich organisiert ist und eine Art kollektive Gemeinschaft darstellt, bildet in einem Moshav die Familie die Kerngmeinschaft. Ein Moshav ist weniger kollektiv organisiert und die Höfe finden sich zum größten Teil in Privatbesitz. (17)

Das Leben im Moshav

Helga und ihr erster Mann Richard Daniel Lillie lernten sich bereits in ihrer Vorbereitungszeit im Chaluz kennen. Dort fragte Richard Helga bereits, ob sie ihn heiraten wolle, da er für die Auswanderung nach Israel eine Ehefrau brauche. Dies lehnte sie jedoch ab, weil sie so viel Zeit in die Hashara investierte, dass sie ein eigenes Zertifikat besaß. Dieses zu nutzen und als eigenständige und freie Frau nach Israel zu kommen, war ihr sehr wichtig. (18) Richard kam mit einer anderen Ehefrau nach Israel, mit der er eine Scheinehe eingegangen war, die er nach Ankunft jedoch sofort auflöste. Angekommen in Israel trafen sich Helga und Richard wieder, heirateten und schlossen sich gemeinsam der Siedlungsgemeinschaft dem Moshav Be´er Tuvia an, von wo aus sie schließlich in das Moshav Kfar Warburg zogen. Das genaue Umzugsdatum ist nicht bekannt, wir wissen nur, dass sie nach Ende des Krieges in Kwar Warburg lebten. Helga war sehr idealistisch veranlagt und wollte das Land aufbauen. Sie war sich im Voraus jedoch nicht bewusst, wie anstrengend das Leben in dem Moshav sein würde. Sie war unzufrieden und hätte sich auch gerne gelgentlich mit etwas anderem als der Arbeit auf dem Hof beschäftigt, wie zum Beispiel ihrer Leidenschaft, dem Singen nachzukommen. Davon war Richard allerdings nicht begeistert, da dieser sich ausschließlich um den Aufbau und die Instandhaltung des Hofes und der Siedlung kümmerte. (19) Im Moshav lebten sie z.B. die ersten 14 Jahre ohne Strom. Unter diesen schwierigen Bedingungen litt auch ihre Ehe. (20)

Ungefähr 1959 bekam Helga Lillie eine steife Hand vom Melken, so dass sie nicht mehr auf dem Hof helfen konnte. Sie musste sich umorientieren und begann fortan Englisch zu unterrichten.(21) Im Unterrichten fand Helga eine Tätigkeit, die ihr sehr gut gefiel und die sie bis ins hohe Alter verfolgte. Helga war erstaunt, wie anstrengend geistige Arbeit sein konnte und dass sie anschließend immer sehr müde war. Richard hatte dafür keinerlei Verständnis, da sie, wie er meinte, doch nur stundenlang auf einem Stuhl saß. (22)

Gemeinsam mit Richard bekam sie zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter wurde im Jahr 1937 geboren. Ihr Name war Jardennna, in Anlehnung an Helgas Familiennamen Jordan. Sohn Helgas und Richards Sohn wurde vermutlich im Jahr 1941 geboren, sein Name ist allerdings nicht bekannt. Helga erwähnte zwar, dass sie und Richard bereits kurz nach ihrer Ankunft in Israel heirateten, eine offizielle Trauung fand allerdings erst viele Jahre später statt. Dafür gab es verschiedene Gründe. Zum einen war Richard offiziell noch mit jener Frau, mit der er nach Palästine gekommen war, verheiratet. Die beiden trennten sich zwar unmittelbar nach ihrer Ankunft in Israel, an eine Scheidung dachten sie damals, aus Kostengründen, jedoch nicht. Für den Rabbiner Dr. Willhelm stellte diese Schein-Ehe jedoch kein Hindernis dar, weil sie nur standesamtlich vollzogen worden war; deswegen traute er Richard und Helga. Dr. Willhelm besaß allerdings keine offizielle Erlaubnis zum Vollziehen von Ziviltrauungen, so dass die britische Mandatsregierung diese nicht anerkannte. Erst im Jahr 1950, als Helgas und Richards Tochter 13 Jahre alt war, fand eine offiziell anerkannte Hochzeit statt. Anlass war, dass sie in die Niederlande reisen wollten. Die dafür benötigten gültigen Reispässe bekamen sie nach der Zeremonie. Für die Hochzeit sollten sie die beiden Trauzeugen mitnehmen, die bei der von dem Rabbiner Dr. Willhelm vollzogenen Trauung anwesend gewesen waren.(23)

Helga und Richards Sohn bekam mit seiner Frau vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter. Sohn und Schwiegertochter übernahmen zuerst den Hof, führten diesen jedoch nur fünf Jahre, weil die Schwiegertochter nicht im landwirtschaftlichen Bereich arbeiten wollte. Der Sohn arbeitet fortan als Autofachmann. Einige Jahre später ließen er und seine Frau sich scheiden, was Helga große Sorgen bereitete. Helga und Richards Tochter Jardenna hatte drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne, von denen einer im Jahr 1982 im Libanonkrieg gefallen ist.(24)

Richard Daniel Lillie starb schließlich im Jahr 1979. (25)

Das Leben im Kibbuz

Scrabble Spielen und die englische Sprache gehörten zu Helgas Hobbies.

Einige Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete Helga erneut. Sie heiratete den sechs Jahre älteren Walder Hein, den sie bereits seit ihrer Kindheit kannte. Walder Hein und Helga waren sich durch einen Zufall in Israel wieder begegnet.

Als Jardenna ungefähr zwei Jahre alt war, suchte Walder Hein, Helgas ersten Mann Richard auf, um diesen zu bitten, dass er sich von der Frau, welche er für die Einreiseerlaubnis geheiratet hatte, offiziell scheiden ließ, da diese Frau nun Walders Bruder Alex heiraten wolle. Eine Hochzeit sei aber erst nach vorheriger Scheidung möglich. Die Kosten für die Scheidung übernahm die Familie Hein. Diese offizielle Scheidung ermöglichte Helga und Richard tatsächlich auch erst die offiziell anerkannte Trauung. Durch diese zufällige Begegnung mit ihrem alten Bekannten kam es zur Kontaktaufnahme der beiden Familien. Helga kannte nicht nur Walder Hein seit ihrer Kindheit, sondern auch dessen Frau aus ihrer Zeit in Emden. Helga und Richard zogen von Be´er Tuvia in das Moshav Kwar Warburg, welches sich in der Nähe des Kibbuz Giv´at Brenner befindet, in welchem Walder mit seiner Familie lebte. Sie begannen die Familie in regelmäßigen Abständen zu treffen, unter anderem mit Besuch aus Deutschland, und es entwickelte sich eine enge Freundschaft.(26)

Ein Jahr nach dem Tod ihres ersten Mannes Richard, starb die Frau Walder Heins an Parkinson. Helga war nach dem Tod ihres Mannes selten zu Hause, so dass sie über den Tod nicht informiert werden konnte und die Beerdigung verpasste.

"und das habe ich sehr bedauert, denn immer, wenn alles schön war, bin ich hin gefahren, also warum nicht zur Beerdigung?" Zitat Helga Lillie (27)

Als sie, ungefähr ein Jahr später, von dem Tod der Frau erfuhr, meldete sie sich bei der Tochter Walder Heins. Diese erwähnte, dass ihr Vater bereits nach ihr gefragt habe. Daraufhin nahm Helga wieder den Kontakt auf. Zwar hatte Helga immer Walder und seine charmante Art zu schätzen gewusst, doch bemerkte sie erst nun die Bewunderung, welche sie im gegenüber empfand, sowie die Verehrung, welche er ihr gegenüber erbachte. Ungefähr im Jahr 1972 heirateten Walder und Helga schließlich, mit dem Einverständnis all ihrer Kinder. Sie zog zu ihm in den Kibbuz Giv´at Brenner. Das Leben im Kibbuz war völlig anders als das von harter Arbeit geprägte Leben im Moshav. Im Kibbuz hatte man Zeit und das wirkte sich enorm auf die Ehe und das Leben aus. Laut eigener Aussage Helgas, war die Zeit im Kibbuz und die Ehe mit Walder, die glücklichste Zeit ihres Lebens. War sie ihr ganzes Leben lang unsicher und hatte kein gutes Selbstbild, gerade in der Schulzeit, fand sie dort ein ganz neues Selbstvertrauen. Endlich konnte sie auch ihrer Leidenschaft, dem Singen, nachgehen, welche Walder mit ihr teilte und erlernte sogar einen neuen Beruf, die Buchbinderei. Das Leben im Kibbuz und die Ehe mit Walder dauerte allerdings nur sehr kurze Zeit von ungefähr einem und dreiviertel Jahr an, weil Walder an Krebs starb. (28)

Versuch der Auseinandersetzung mit der Shoa

"Alle weg, ich hab außer meinen Kindern, keinerlei, niemand von der großen Familie, nicht väterlich, nicht mütterlicherseits. Alles weg." Zitat Helga Lillie (29)

Nach dem Tod ihres zweiten Mannes zog Helga schließlich im Jahr 1985 nach Jerusalem. Sie mochte das Leben im Kibbuz zwar sehr, doch wäre sie dort ganz alleine gewesen. Ihre Tochter Jardenna lebt ebenfalls mit ihrer Familie in Jerusalem. Sie und Helga hatten engen Kontakt und sahen sich mindestens einmal in der Woche, wie sie in dem Interview beschreibt. (30) In Jerusalem lebte Helga in einem Altersheim, sie war körperlich eingeschränkt, doch nutzte sie die ihr dadurch zur Verfügung stehende Zeit viel zum Nachdenken. Sie dachte über ihr gesamtes Leben nach, über ihr Leben im Moshav und die Unterschiede zu ihrem darauffolgenden Leben im Kibbuz. Besonders intensiv beginnt sie jedoch, sich ihrer ermordeten Verwandten zu erinnern, über den immer schon latent bestehenden Antisemitismus und dessen grausame Zuspitzung in der Shoa. Sie denkt über das erlebte Leid von Jüdinnen und Juden nach und umso eindringlicher Helga sich damit auseinandersetzt, umso weniger kann sie dies begreifen.

"Uns Juden, was waren wir groß anders?" Zitat Helga Lillie (31)


Als ihr Bruder Hermann Jordan im Jahr 1965 zurück nach Deutschland ging, hinterließ er ihr die Briefe, welche die Eltern ihnen, in den letzten Jahren ihres Lebens aus Deutschland, geschrieben hatten. Helga hatte es bis zum Zeitpunkt des Interviews, 25 Jahre später, nicht geschafft, die Briefe erneut zu lesen. (32)

Im Jahr 1937 besuchten Albert und Auguste Jordan ihre Tochter Helga Jordan, die zu diesem Zeitpunkt, genau wie ihr Bruder Hermann, bereits in Palästina lebte. Sie kehrten nach Deutschland zurück, um anschließend mit ihrem Haushalt einzuwandern, mit dem Plan, gemeinsam mit ihren Kindern ein neues Leben im zukünftigen Israel aufzubauen. Dies konnten sie allerdings nicht verwirklichen, weil sie beriets 1938 nicht mehr aus Deutschland ausreisen durften. Ihre Eltern zurück nach Deutschlang gelassen zu haben, lässt Helga bis ins hohe Alter nicht mehr los und sie bezeichnet dies, als die dümmste Entscheidung ihres Lebens.

„Meine Eltern waren noch 1937 bei mir im Land zu Besuch, als meine Tochter geboren wurde, dann sind sie zurück, weil sie wollten doch mit dem Haushalt kommen, '38 konnten sie nicht mehr raus, das ist die schlimmste Dummheit, die wir gemacht haben, wir hätten die Eltern nicht zurückgehen lassen sollen“ Zitat Helga Lillie-Jordan (33)

Helga Jordan kam durch einen Zufall in den Besitz des Jahrbuches zum 100-jährigen Jubiläum des Goethe-Lyzeums (heute das Goethe-Gymnasium). Sie begegnete in Israel einer Lotte Franke, die ehemalige Schülerin des Goethe-Lyzeums und deswegen im Besitz des Buches war. In diesem Jahrbuch hatte Helgas Cousine Hilde Jordan einen Artikel geschrieben, weswegen Lotte Helga das Buch überließ. In dem Buch befindet sich neben dem Artikel auch die Adresse der Lehrerin Hilde Jordans, welche Helga noch von früher kennt. Sie schreibt dieser Lehrerin, um sich zu erkundigen, ob ihr eigener Lehrer noch leben würde. Sie bekommt seine Adresse und schreibt ihm, um sich nach den Kontaktdaten ihrer alten Schulfreundinnen zu erkundigen. Von zwei ihrer ehemaligen Freundinnen bekommt sie die Adresse und nimmt den Kontakt auf. Eine von ihnen war Rose Küßner.(34) Es ensteht ein regelmäßiger Briefkontakt und Helga und ihr damaliger Mann Richard überlegen lange, ob sie zurück nach Deutschland reisen sollen, um ihre Schulfreundin zu besuchen. Es ist für beide eine sehr schwierige Entscheidung, so waren sie seit ihrer Alija und nach den traumatisierenden Ereignissen der Shoa nicht mehr in Deutschland. Sie entschieden sich schließlich dafür, die Reise zu wagen, auch wenn ihnen von vielen Seiten die Frage gestellt wurde, wie sie nur je wieder nach Deutschland reisen könnten, zumal ihre eigene Angst immens ist. Gerade da sich der Holocaust-Gedenktag jährt und zahlreiche schreckliche Filmmaterialien und Informationen in den Medien präsent waren, fällt ihnen diese Entscheidung nicht leicht. Doch Helga berichtete, dass sie diese Entscheidung nicht bereut habe und die Wiederaufnahme des Kontakts mit ihren Freundinnen ihr sehr gut getan habe. Bis ins hohe Alter hielten sie engen Kontakt und in jüngeren Jahren besuchten die Familien sich gegenseitig in Deutschland und Israel. (35)

Doch auch wenn der Kontakt zu ihren Schulfreundinnen Helga sehr gut tut, so holt er doch immer wieder schmerzliche Erinnerungen hoch und bringt Helga zumm Nachdenken über das Geschehen. Sie erinnert sich, dass ihre Freundin Frau Betten, als es um Helgas Auswanderung ging, erwähnte, dass ihre eigene Mutter sie nie hätte gehen lassen können. Helga erwiderte

"bei ihrer Mutter liegt eine Freiwilligkeit drin, wenn sie sich von der Tochter löst. Meine Eltern mussten uns wegschicken, das ist der große Unterschied." (36)

Ohne diesen Umstand wäre es nicht zu dieser Trennung gekommen. Ihre Eltern hatten keine Wahl, sie mussten sie ziehen lassen. Helga hatte ihre Mutter das letzte Mal gesehen, als sie 25 Jahre alt war. Viel zu jung, wie sie findet. (37)

Helga ist neben den Briefen ihrer Eltern auch im Besitz eines Briefes einer ehemaligen Freundin, welche sie aus der gemeinsamen Zeit in Emden (Herkunftsort ihrer Großeltern) kannte. Diese Freundin hatte es geschafft aus dem Lager Westerblock einen Brief zu schreiben, in dem sie über die katastophalen Zustände berichtet. Der Brief sei laut Helga

 "erschütternd wie nur irgendetwas" (38)

Weiterführende Literatur, Internetseiten und Belege

Einzelnachweise

[1] Helga Lilie, Wohnungseinrichtung der Familie Aaron und Auguste J O R D A N, Tel-Aviv, 31.12.1956, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Reg. Arnsberg, Wiedergutmachungen 622011:

[2] Gespräch mit Frau Schmeller und Frau Fateh, den Töchtern einer der Klassenkameradinnen von Helga Jordan, das Herr Sebastian Seng am 2.12.2014 im Stadtarchiv Dortmund führte.

[3] Eidesstattliche Erklärung von Helga Lilie geb. Jordan, Tel-Aviv, 24.10.1956, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 161180:

[4] Abschrift, Zeugnis der Reife von Fräulein Helga Jordan vom 8. März 1932, Tel-Aviv, 26. Oktober 1956, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 161180:

[5] Interview Minute 2.30

6. Interview Minute 23.34

7.Eidesstattliche Erklärung von Helga Lilie geb. Jordan, Tel-Aviv, 24.10.1956, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 161180:

8. Interview Minute 10.29

9. Jahrbuch des Schillerlyzeums aus dem Jahr 1934-1935 S.107

10. Jahrbuch des Schillerlyzeums aus dem Jahr 1935-1936 S.97

11.

12. https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ueber/hachschara Abrufdatum: 27.11.23

13. https://www.wikiwand.com/de/Alija Abrufdatum 27.11.23

14. https://www.ghetto-theresienstadt.de/pages/h/hechaluz.html

15. RP Arnsberg, Bescheid in der Entschädigungssache der Frau Helga Lilie, geb. Jordan, Arnsberg, 27.08.1957, Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen 161180:

16. Interview Minute 50.56

17. Newsletter Wirtschaftsdemokratie Ausgabe 7 Jahr 09/15 - der Rosaluxenburgstiftung. Artikel: "Israel, Kibbutz & Moshav und das linke Projekt - Eine Annäherung." Seite 8 https://saar.rosalux.de/fileadmin/ls_saar/Newsletter_WD7_2015.pdf (Abgerufen am 29.01.24)

18. Interview Minute 46.11

19. Interview Minute 10.45

20. Interview Minute 21.01

21. Interview Minute 03.39

22. Interview Minute 03.54

23. Interview Minute 49.50

24. Interview Minute 15.50

25. Interview Minute 11.53

26. Interview Minute 47.07

27. Interview Minute 53.38

28. Interview Minute 46.07

29. Interview Minute 27.54

30. Interview Minute 56.50

31. Interview Minute 29.50

32. Interview Minute 33.09

33. Interview Minute 28

34. Gespräch mit Frau Schmeller und Frau Fateh, 2.12.2014, Stadtarchiv Dortmund

35. Interview Minute 39.28

36. Interview Minute 30.07

37. Interview Minute 29.47

38. Interview Minute 34.03

Internetquellen

Archivalien und Tondokumente